------------------ DIE MAILART HAT UNSER LEBEN VER€NDERT 20 Jahre Mail-Art-Mekka Minden von Peter Netmail

 

 

Infiziert wurde ich mit Mail Art durch den englischen Dichter David "Donã Jarvis, der mir ein paar Seiten voller GluckwŸnsche aus aller Welt zu verkaufen zum 90ten Geburtstag von "Quercus Roburã. Das ist der lateinische Name fŸr die Eiche vor seiner Sozialwohnung, in der er einen Farbkopierer hat. Unschuldig wie ich war, erwarb ich diese Fotokopien fŸr eine horrende Summe. Als Hilfe, "um das Porto zu finanzierenã. Kein anderer Satz hat mein Leben je mehr beeinflusst. Seine faszinierende Teilnehmerliste nutzte ich fŸr mein eigenes erstes Mailart-Projekt, das mir die erste Ausstellung einbrachte in Mindens alter Johanniskirche. Da draussen gab es ein ganzes Netzwerk von KŸnstlern, durch die Post verbunden. Heutzutage brauchen wir alle Grossfamilien. Solange ich noch lohnabhŠngig-werktŠtig in einer spŠtkapitalistischen Massengesellschaft arbeite in einer Welt voller Kriege, ist das Grund genug, mich einer Kerngruppe wie der Mailart mit ihren Visionen im globalen Dorf anzuschliessen. Fur mich ist die Mailart exklusiver als Rotary und der Lions Club. Und kreativer. Das Netwerk machte mich zum Autor, zum Herausgeber und zum Familienmitglied. Wann immer eine neue FŠhigkeit benštigt wurde, musste ich sie beim Tun erlernen. Das brachte mich meinem Ideal eines ganzheitlichen Lebens nŠher, im Sinne von Joseph Beuys` Definition der Kunst und des KŸnstlers. Und immer galt: ãDokumentation an jeden Teilnehmer,"keine Zensurã, und ãkeine Rucksendungenã, was einen erheblichen Zuwachs bedeutete fŸr mein Archiv. Heute investiert Angela eine Menge Zeit und Energie darein, es auf dem laufenden zu halten. Das Netzwerk machte uns zu Verlegern und Archivaren. So mancher KŸnstler aus unseren BŸchern tauchte hier leibhaftig auf, mit eigenen Arbeiten und Anhang. 1986 organisierte ich einen 10tŠgigen Marathon in unserm Mailart-Mekka Minden. An solchen Tagen wird die Mailart in eine neue Dimension transformiert, wenn wir jene Kreativniks zum ersten Mal persšnlich treffen, deren vielfŠltige Wunder jahrelang in unsere PostfŠcher geflossen sind. Wir wurden Galeristen und Vorsitzende des Kulturvereins Wolkenstein, benannt nach dem MinnesŠnger. Hier kšnnen wir heute Kunst aus dem Netzwerk einem grossen Publikum zugŠnglich machen. Diese Arbeit stellt das Bindeglied dar zwischen der Mailart und anderen zeitgenšssischen Kunstformen. Das Netzwerk machte uns zu Kuratoren und Gastgebern. Und Mailartisten haben meine AcrylgemŠlde, Aquarelle und Zeichnungen ausgestellt, und natŸrlich - unsere Mailart, in DŠnemark,Holland, Korea, der DDR, den USA, einem finnischen Kunstcafe« nahe dem Polarkreis und in der Stempelkunst-Galerie in San Francisco. Zur Finissage unserer Ausstellung "20 Jahre Netmail" liess mich Jurij Gik den vorliegenden Artikel auf Russisch im Moskau-Chechover Postmuseum vortragen. Das Netzwerk machte uns zu ein KŸnstlern auf Reisen. Oft muss man wirklich dorthin, um zu verstehen. 1987 besuchten wir E A Vigo in Argentinien. Dort erst verstanden wir seinen Postkarten-Beitrag "Palomo vive". Sie war Ausdruck der Trauer eines Vaters, der - obwohl selbst Richter - nicht das "Verschwundenwerden" seines eigenen Sohnes durch die MilitŠrjunta hatte verhindern kšnnen. Nach all den Jahren klammerte er sich an die Idee, sein Sohn Palomo sei noch am Leben. Ich verstand, als er uns eine Ausstellung zeigte, die sein Sohn und dessen Mitstudenten gemalt H€TTEN, wenn sie noch am Leben wŠren. In Wirklichkeit hatte er alles selbst gemalt. †ber das alles begann ich in Mailart-Zeitschriften zu berichten und fand mich sehr bald dabei wieder, auch Artikel von andern Mailartisten zu Ÿbersetzen. Das Netzwerk machte mich zu einem Reporter, einem Kommentator und einem vielsprachigen †bersetzer. Unsere JahrbŸcher sind mit selbstproduzierten KŸnstlermarken dekoriert, eine individuelle Alternative zu den offiziellen Briefmarken: alles was die Post vergass. Die ersten machten wir aus Etiketten fŸr MarmeladenglŠser als optimalem Material: leer, perforiert, gummiert. Heute perforieren wir unsere eigenen Marken im Keller unter dem Netmail-Archiv auf einem hundertjŠhrigen gusseisernen Perforator. Und etablierte Kunstinstitutionen wie die Biblioteca Alexandrina in €gypten und das Mainzer Gutenbergmuseum laden mich ein, DiavortrŠge zu halten Ÿber unsere "BŸcher aus dem Rucksackã und "Wie die Mail Art unser Leben verŠndert hat - und umgekehrtã. Das Netzwerk machte uns zu MarkenkŸnstlern und Referenten. Angelas SpezialitŠt ist das Schnitzen von KŸnstlerstempeln per Hand. Sie schaute den fŸhrenden Stempelschnitzern des Netzwerks Ÿber die Schulter und ins Archiv, mittlerweile zŠhlt sie selbst zu ihnen. Ihre bevorzugten Motive findet sie auf unseren ausgedehnten Reisen.So manche Wartezeit in Bahn- oder FlughŠfen verbringt sie geduldig mit dem Schnitzen feinster Linien, die ihren StempelabdrŸcken das graphische Flair geben. Das Netzwerk machte Angela zur StempelkŸnstlerin. 1998 lud sie Netzwerker ein, auf 100 riesigen Plakattafeln in der ganzen Stadt eine Freiluftgalerie zu schaffen. Man stelle sich die erstaunten Reaktionen der Passanten im Feierabendverkehr vor angesichts all dieser grossen Originalarbeiten anstelle und an der Stelle der gewohnten Reklamen. Dabei entdeckte so manche einheimische KŸnstlerin ihre Liebe zur Markenkunst. Das Netzwerk machte uns selbst zu Paten. Die Arbeit im Netzwerk ist fŸr uns auch ein steter Quell physischer Herausforderungen geworden. Ich transportierte handgeschriebene Friedensbotschaften auf meiner Glatze Ÿber die internationale Datumsgrenze zu unsern Mailartfreunden in Kanadada, in Finnland musste ich durch einen See schwimmen, um Mailart zuzustellen Das Netzwerk machte uns zu KšrperkŸnstlern und Kunstobjekten. Mailart-Networking als Lebensstil fŸhrt zu Superlativen.Die hšchste Netmailpost wurde von Elephanten aus dem Himalaja transportiert, als wir durch Nepal wanderten; und die tiefste je verschickte Mailart schickten wir vom Grund des Pazifiks in Indonesien: einhundert laminierte Dokumentationskarten, festgebunden an unseren TaucheranzŸgen. Ganz 1992 waren wir als Kunstpostboten in historischen Uniformen unterwegs und stellten Ÿber 200 Kilo Netz-post (daher der KŸnstlername Netmail) von Hand in allen Kontinenten zu, 4000 Objekte. Das brachte uns den Weltmeistertitel ein Guinness-Buchs der Rekorde. Und die hatten unsere Angaben zuvor sehr genau gepruft! Die meisten Informationen fanden sie in unserem bisher dicksten Buch: der Reisedokumentation "Kostenloser Persšnlicher Netmail Zustelldienst". In Djakarta erschien unser erstes theoretisches Buch: "Netzwerk-Diskussionen. Investition von Zeit, Geld und Energie ansehen. Man lebt nicht von der Mailart, sondern F†R sie. Heutzutage erhalte ich immer dann Mittel fŸr die šrtliche PrŠsentation von Mailart-Projekten, wenn ich es schaffe, Partner in meiner Stadt zur Kooperation zu gewinnen. Das Netzwerk machte mich zu einem unabhŠngigen Mitteleintreiber. Netzwerkzeitschriften und Šhnliche Medien erfahre ich als wichtige Hilfsmittel zur breitenwirksamen und kostengŸnstigen Verbreitung von Projekteinladungen und -dokumentationen. Ich halte die regelmŠssige Dokumentation des Status Quo der Mail Art und unserer individuellen Entwicklungsgeschichten fŸr ebenso wichtig wie die Produktion neuer Mail Art. Das Netzwerk machte mich zum Historiker und Kritiker. Wir werden schliesslich nicht jŸnger, und Ÿberall sehe ich Networker, die das Leben und die Kunst und das Zusammensein geniessen wollen. Sei es auf der Minipressen-Messe in Mainz alle 2 Jahre, fŸr uns ein "Familientreffenã mit alten Freunden oder bei unsern Geburtstags-Festen in Minden. Man gebe den Teilnehmern gut zu essen, ein warmes Bett, eine Fahrkarte - und eine BŸhne zum Auftreten, dann erhŠlt man ein grossartiges Festival voll ihrer Energie und Ideen, und wundervolle Erinnerungen dazu! Das bedeutet fŸr mich letztendlich ein StŸck praktischer Friedensarbeit, von dem die Generationen unserer VŠter und GrossvŠter zu Weltkriegszeiten nicht einmal trŠumen konnten. Da historisch gesehen ein Deutscher in Uniform im Ausland eine schreckliche Tradition darstellt, bedeutet das fŸr mich eine Heilungs-Chance, wenn ich zwar auch in einer Uniform komme, aber eben als geladener Freund, sprich: Kunstpostbote. Als laszive weibliche Darstellerin "Petraã geschminkt, welturaufzufŸhrten Dawn Redwood und ich in Belgien das Neo-Dada-StŸck "The Fake Picabia Transistersã, als Hommage an unseren Ahnen Kurt Schwitters. Und auf der koreanischen Friedensinsel Jeju spielte ich als nackter Cellist, von oben bis unten angemalt wie der Tod, ein Requiem fŸr die Opfer des Anschlags auf das World Trade Center, vor einer Wand mit hunderten von Mailart-Postkarten zum Thema "Der Tod ist ein nackter Cellistã. Als Zauberer trat ich bei der Eršffnungsveranstaltung der 50ten Biennale in Venedig auf. Auf der Documenta in Kassel verteilte ich Einladungskarten fŸr das Mailart-Projekt "Der BrieftrŠger kommt bei Ebbeã an ein interessiertes Publikum, dessen BeitrŠge wir dann spŠter bei Ebbe zwei Stunden weit durchs Wattenmeer zur Hallig SŸderoog trugen zu ein paar tausend Mšven und einem freundlichen KŸstenwŠchterpaar,das war sehr erfreut Ÿber all diese farbenfrohen Minikunstwerke In diesem Projekt verbanden sich wieder lokale und globale Aspekte durch die Kombination von Mailart und Performance als zwei zeitgenšssischen Kunstformen. Postkarte + Mailartprojekt + Performance + Buchdokumentation: das Netzwerk machte uns zu synesthetischen KŸnstlern. Ich bin inzwischen Mitglied des Mindener Autoren Klubs MAK und der EuropŠischen Autorengemeinschaft "die koggeã und helfe, Poetry - Slams mit ihr im B†Z durchzufŸhren. RegelmŠssig habe ich Buchvorstellungen und Lesungen auf unseren BŸhnen organisiert gegen Gewalt und Rassismus. Gerade die Multitalente unter den Mailartisten tun sich hier als Schreiber hervor. Das Netzwerk machte mich zum literarischen Mittler. In unserm Leben als Mailartisten erwarten uns noch viele †berraschungen. Vorsciht, wenn Sie sich infizieren, mŸssen SIE nachher das Porto bezahlen. Seien Sie gewarnt!

 

peterkuestermann@hotmail.com

netmailart@gmx.de postfach 2644 D 32383 MINDEN tel=fax 0571 28347